Zum Greifen nah und doch blockiert

Arbeiterbewegung hier und heute – die jüngsten Streiks bei Opel, Gate Gourmet und BSH im Rückblick. Eine Literaturschau mit SchlussfolgerungenPDF-Download

Von Ludwig Unruh

Die letzten Jahre haben nun auch in Deutschland eine deutliche Zunahme an Arbeitskämpfen gebracht, v.a. das Jahr 2006 dürfte nach 1992 als neue Spitze in die Streikstatistik der BRD eingehen. Das ist weniger ein Verdienst rebellischer ArbeiterInnen – die weitaus meisten Streiks sind Abwehrkämpfe gegen den zunehmenden „Klassenkampf von oben“. Den beteiligten ArbeiterInnen geht es in erster Linie um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und/oder die Abwehr von Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen. Der jahrzehntelange Trend stetiger Reallohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen ist inzwischen umgekehrt worden, die aktuellen Auseinandersetzungen folgen nicht mehr dem Schema der Arbeitskampfrituale der Jahre zuvor. Die Unternehmerseite ist offensichtlich nicht mehr gewillt, dem Sozialpartner quasi vorbeugend Zugeständnisse einzuräumen. Doch allein in dem Fakt, dass ArbeiterInnen wieder kämpfen müssen, liegt die Chance dass sie die Lethargie der Jahre nach dem Mauerfall überwinden.

Dennoch gelingt es uns zumeist nur ansatzweise, in solchen Konflikten als alternative, solidarische Kraft aufzutreten. Das ist insofern nicht weiter verwunderlich, da die sich häufenden Kämpfe auch für die meisten von uns eine ungewohnte Situation darstellen, die man zwar herbeigesehnt, auf die man sich aber kaum vorbereitet hat. Dass es dennoch lohnend sein kann, bei solchen Kämpfen dranzubleiben und zu versuchen, mit den ArbeiterInnen selbst ins Gespräch zu kommen, zeigen die Erfahrungen, die bei einigen der jüngsten ArbeiterInnenkämpfe gemacht wurden.

Zu zwei dieser Kämpfe – dem 6-tägigen wilden Streik 2004 bei Opel in Bochum1 und dem 6-monatigen Streik 2005/06 am Düsseldorfer Standort des Airline-Caterers Gate Gourmet2 – sind inzwischen Bücher erschienen, in denen nicht nur die Erfahrungen von linken AktivistInnen von in- und außerhalb der jeweiligen Betriebe aufbereitet werden, sondern in denen auch die Beteiligten selbst zu Wort kommen. Bei einem weiteren wichtigen Streik 2006 – dem fast 2-monatigen Kampf im Bosch-Siemens-Hausgerätewerk (BSH) in Berlin im Herbst 2006 – wurden von UnterstützerInnen ebenfalls längere Interviews mit Streikenden gemacht und veröffentlicht.3 Im Folgenden soll mit Hilfe dieser Texte ein erstes Fazit aus den jüngsten Streiks in der BRD gezogen werden.

Streikursachen

Zunächst einmal waren alle drei Konflikte Abwehrkämpfe gegen Angriffe des Kapitals. Nachdem in kleineren Betrieben oft „frühkapitalistische“ Verhältnisse schon länger Einzug gehalten haben, gelten die Angriffe des Kapitals in den letzten Jahren vermehrt den Belegschaften der großen Konzerne. Bei Opel und BSH ging es um angekündigte Betriebsschließungen bzw. Massenentlassungen, im Falle Gate Gourmet um die immer unerträglicher werdenden Arbeitsbedingungen infolge der massiven Umstrukturierungen der letzten Jahre. Alle drei Konflikte fanden in Filialen von weltweit organisierten Konzernen statt, deren Belegschaften zu einem großen Teil migrantischer Herkunft sind. Die ArbeiterInnen in diesen Betrieben zeigten in der Vergangenheit ein recht hohes Maß an Identifikation mit „ihren“ Betrieben, dort zu arbeiten galt – und gilt z.T. auch heute noch – als Privileg. Die Bezahlung liegt bzw. lag deutlich über den branchenüblichen Löhnen, die Fluktuation war eher gering.

Diese „Privilegien“ stehen nun zur Disposition. In allen drei Fällen hat in den letzten Jahren bereits ein massiver Stellenabbau stattgefunden, zum einen aufgrund von Produktionsverlagerungen (Opel und BSH), zum anderen aufgrund der allgemeinen Krise im Automobilbau bzw. im Luftverkehr (nach den Anschlägen vom 11.9.). Mit dem Personalabbau ging eine massive Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeit einher, die durch Umstrukturierungen und die umfassende Reorganisation der Arbeit zusätzlich gepusht wurde. Dazu wurde innerhalb der Konzerne eine Marktorganisation inszeniert, die die einzelnen Abteilungen und Standorte der Konzerne in eigenständige „Profitcenter“ umwandelte und miteinander in Konkurrenz setzte. Wo das so nicht möglich war (wie im Falle Gate Gourmet, wo eine Drohung mit Verlagerung kaum wirksam ist), wurden die ArbeiterInnen durch eine Neuorganisation der Arbeit am Standort unter Druck gesetzt. Im letzteren Falle war es die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey, die den Auftrag für die Erarbeitung eines entsprechenden Konzeptes bekam und die geschickt die ArbeiterInnen beim Auffinden ungenutzter Potentiale einbezog. So wurde die „anonyme Bandarbeit“ in einzelne, individuell zuordenbare Arbeitsaufgaben umgewandelt, für die nun jede einzelne Kollegin verantwortlich gemacht werden konnten. Zudem wurden komplexe Tätigkeiten in einzelne Arbeitsgänge zerlegt, für die keine besondere Qualifikation mehr notwendig ist. Dadurch werden die ArbeiterInnen leichter ersetzbar, die Drohung der Arbeitslosigkeit realer. Letztlich gelang es dadurch, die Solidarität unter den KollegInnen weitgehend zu zerstören und die Arbeitsproduktivität innerhalb von drei Jahren um 30% zu steigern. „So hielt der Teufel Einzug in die einzelnen Abteilungen.“ [GG32], lautete das Fazit eines Kollegen bei Gate Gourmet.

Organisierung und Gewerkschaften

All diese Maßnahmen sind natürlich zweischneidig. Zwar gelingt es Unternehmen damit, aus den ArbeiterInnen kurzfristig (oder auch mittelfristig) mehr herauszupressen, auf der anderen Seite wird die Loyalität der Belegschaften damit nicht gerade gefördert. Früher oder später kommt der Punkt, an dem die Geduld der ArbeiterInnen zu Ende ist („Die können mich rausschmeißen, ist mir egal, ich kann einfach so nicht weiter.“ [GG33]) oder aber die Erpressung mit Standortverlagerung durch die Unternehmen keine andere Chance mehr lässt, als das letzte bisschen Macht auch einzusetzen, das den ArbeiterInnen angesichts dieser Drohung noch bleibt: das so teuer wie möglich für das Unternehmen zu gestalten.

Damit der weitverbreitete Unmut in kollektive Aktion umschlägt, bedurfte es jedoch einer organisierenden Kraft. Die Kämpfe wurden, zumindest anfangs, von den „zuständigen“ Gewerkschaften (BSH, Opel: IGM; GG: NGG) unterstützt – jedoch ging die Initiative dazu nicht unbedingt von ihnen aus. Eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung spielten unabhängige Gruppen von ArbeiterInnen. Im Falle von Opel war das die seit über 30 Jahren existierende gewerkschaftsoppositionelle Gruppe „Gegenwehr ohne Grenzen“ (GoG) sowie ein Teil des Vertrauensleutekörpers, bei Gate Gourmet eine kleine informelle Gruppe von ArbeiterInnen, das selbst so genannte „U-Boot“, die für eine hohe Streik-Beteiligung sorgten.

Aus den Interviews geht aber auch hervor, dass die Kämpfe ohne Gewerkschaften vermutlich nicht stattgefunden hätten. Generell besteht offensichtlich ein ziemliches Missverhältnis zwischen dem „hypergroßen Vertrauensverlust bei den traditionellen Vertretungswegen“ [Op108], der sich in einem anhaltenden Rückgang in den Mitgliedszahlen ausdrückt, und der Bereitschaft bei Streiks, wieder in die Gewerkschaften einzutreten und diese auch als Vertreterinnen von Belegschaftsinteressen zu akzeptieren. Letztlich gab es nur sehr wenige Streikende, die nicht in den jeweiligen Gewerkschaften organisiert waren, spätestens zu Streikbeginn traten die Unorganisierten ein. Das lag nicht nur an der Streikunterstützung, die für die meisten der Streikenden unverzichtbar war. Für die streikunerfahrenen Belegschaften bei Gate Gourmet oder BSH galten die Gewerkschaften als „Experten für Arbeitskämpfe“, ohne deren „Know-how“ sie sich kaum eine Streikführung vorstellen konnten. Im Falle von Gate Gourmet änderte sich diese Einschätzung im Laufe des Kampfes, die Streikenden stellten fest, dass auch „die Gewerkschaft gar keine Erfahrung hat“ [GG148] – eine Beobachtung, die im letzten Jahr sicher viele Streikende machen konnten. Dennoch waren nach Einschätzung eines der Streikaktivisten „die uns rund um die Uhr begleitenden Gewerkschafter (...) unverzichtbar“ [GG35]. Bei BSH war es ähnlich, die streikende Belegschaft hatte bis zum Tage des Verhandlungsabschlusses ein „hundertprozentiges Vertrauen zur Gewerkschaft“ [FFF]. Der Bruch kam dann bei der mehr oder weniger von den Gewerkschaftsfunktionären betriebenen Beendigung der Streiks. Im Falle von Gate Gourmet war die NGG mit anhaltender Streikdauer immer weniger bereit, den mit hohen Kosten verbundenen Aufwand zu betreiben und drängte auf den Abschluss von Verträgen, in Bochum gelang es mit Hilfe von manipulierten Stimmzetteln, das Ergebnis der Urabstimmung in diesem Sinne zu beeinflussen und bei BSH wurde der Abbruch des Streiks gegen eine Zweidrittelmehrheit weiterhin Streikwilliger durchgesetzt.

Die Belegschaften

Die Bereitschaft zum Streik war in allen Fällen hoch – allerdings nur unter den Produktions-, von denen sich in Düsseldorf und Berlin jeweils gut zwei Drittel am Streik beteiligten. Bei den Angestellten gab es nur sehr wenige, die sich solidarisierten, viele von ihnen übernahmen gar Streikbrecherarbeiten. Diese stellten insbesondere bei den beiden länger andauernden Streiks ein reales Problem dar. Insbesondere bei Gate Gourmet gab es viele freiwillige StreikbrecherInnen von anderen Standorten und zahlreiche LeiharbeiterInnen, die mit Argumenten kaum zu beeindrucken waren. Sie waren ideologisch von der Unternehmerseite gut vorbereitet worden und zeigten teilweise ein „völliges Unverständnis“ gegenüber den Streikenden [GG35f].

Die ArbeiterInnen entwickelten im Verlauf der Kämpfe nach Aussagen der meisten Interviewten viel „Selbstengagement“ und ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Kampfgeist. „Das war wie im Rausch“, meinte ein Opel-Arbeiter zu den ersten Tagen des Streiks [Op83]. Der Kampf bei BSH kam hingegen eher langsam in Fahrt, erst im Verlauf bildeten sich Ansätze von Selbstorganisation, wie z.B. eine „Kreativgruppe“, die eigene Transparente malte und Flugblätter schrieb, die nicht von der Gewerkschaft abgesegnet waren. Auch die Initiative zum „Marsch der Solidarität“ durch zahlreiche Orte in Deutschland, wo ähnliche Konflikte wie bei BSH in Berlin ausgetragen worden waren, kam aus der Streikbasis – die Gewerkschaft hat sich dann „drangehängt“ und die Busse finanziert, um nicht die Kontrolle über den Streik zu verlieren [FFF]. Bei Gate Gourmet war es wohl vor allem dem „U-Boot“ zu verdanken, dass die „die Belegschaft sich den Streik aneignete“ [GG93]. Dennoch war es i.d.R. ein begrenzter Kreis von Aktiven, die die Streiks über die gesamte Dauer gepusht haben. Bei Gate Gourmet waren es etwa zehn von 70 Streikenden, am Soli-Marsch bei BSH beteiligte sich ein Kern von ca. 50 Leuten (von insgesamt knapp 500). Mit anhaltender Streikdauer bröckelte dann auch das Engagement der Streikenden. Bei Gate Gourmet stellte ein Aktivist fest, dass der Streikalltag für viele schließlich „wie zur Arbeit fahren“ geworden sei. [GG65]

Eine effektive Solidarisierung seitens der Kollegen anderer Konzernstandorte blieb in allen drei Fällen aus. Zwar gab es manche Soli-Erklärungen von Betriebsräten oder GewerkschafterInnen aus anderen Niederlassungen, auch aus dem Ausland. Diese gaben aber i.d.R. die Informationen über die Streiks nicht an ihre KollegInnen weiter und auch die Gewerkschaften zeigten keinerlei Interesse, die Kämpfe auszuweiten. Ausnahmen bildeten die KollegInnen der Londoner Niederlassung von Gate Gourmet, wo sich ein Teil der Belegschaft ebenfalls in einem Arbeitskampf befand und die Streikenden sich gegenseitig besuchten. Ähnlich verhielt es sich bei den UnterstützerInnen aus anderen Betrieben – hier kam es vor allem zu solidarischen Aktionen (wie Besuchen, Spenden, Angebote, die Streikposten zu unterstützen usw.) von denjenigen, die in der jüngeren Vergangenheit ähnliche Kämpfe ausgefochten hatten. AEGler aus Nürnberg fuhren nach Düsseldorf, die BSHler erhielten bei BenQ in Kamp-Lintfort oder dem Stahlwerk in Eisenhüttenstadt die meiste Unterstützung. Auch besuchten z.B. CNH-ArbeiterInnen, die erst kurz vorher einen ähnlichen Kampf geführt hatten, die Streikenden des BSH. Viel Beistand kam auch von den Familien und Communities der Streikenden, oder im Falle von Opel von nahezu der gesamten Stadt Bochum, wo ein Großteil der Bevölkerung die Auswirkungen von Massenentlassungen zu spüren bekommt. Auch zahlreiche Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre nutzten die Streiks für medienwirksame Solidaritätsbekundungen – die Streikenden waren für jede Unterstützung dankbar. In jedem Falle war „das Erleben so breiter Solidarität beeindruckend und vorwärtstreibend, doch das Ausbleiben weiterer Belegschaftsaktionen an anderen Standorten deprimierend.“ [Op165]

Die Linke

Dieser „Hunger nach Solidarität“ kam auch den linken AktivistInnen zugute, die bei den Streiks auftauchten. Zwar war es anfangs schwierig, mit den Streikenden in Kontakt zu treten. Zumeist wurde man gleich an den „zuständigen“ Gewerkschaftssekretär oder Betriebsrat verwiesen. So berichteten UnterstützerInnen bei Gate Gourmet, dass sie bei den ersten Versuchen der Kontaktaufnahme auf Desinteresse gestoßen sind und alles nach einem „typisch ritualisierten Gewerkschaftsstreik“ aussah [GG92]. Jedoch nachdem sie regelmäßig aufgetaucht waren und die Streikenden sich von der Ernsthaftigkeit der UnterstützerInnen überzeugt hatten, waren sie akzeptiert. Im Falle von Gate Gourmet ging das soweit, dass letztlich die Blockaden als wichtigste Kampfform hauptsächlich von den UnterstützerInnen durchgeführt wurden, da die Streikenden als Flughafenangestellte bei solchen Aktionsformen Gefahr liefen, ihre Sicherheitsüberprüfung, die Voraussetzung für ihren Job ist, zu verlieren. Im Ruhrgebiet bildete sich schließlich eine fester UnterstützerInnenkreis von linken AktivistInnen, deren Zusammensetzung sich von Einzelpersonen und lokalen Gruppen über Wildcat, FAU bis hin zu VertreterInnen von MLPD oder DKP erstreckte. Das Interessante dabei war, dass es von Seiten der Beteiligten kaum Versuche gab, ideologische Dominanz zu erlangen. Im Mittelpunkt des Interesses stand die Unterstützung des Streiks. Insbesondere die Fähigkeit, Aktionen und Kontakte zu organisieren kam den Streikenden praktisch zugute – in den Augen sicherlich nicht nur eines Arbeiters übten die UnterstützerInnen eine „tragende Funktion“ [GG154] aus. Ein anderer bezeichnete das „Dreigestirn“ Gewerkschaft, Linke und Tarifkommission gar als „ideale Streikkombination“. [GG74] Und last but not least gab es unter den Streikenden große Bereitschaft für Interviews und ein deutliches Interesse der InterviewpartnerInnen, „die Erfahrungen zu verarbeiten und verfügbar zu machen“ [GG96]. Auch beim BSH hat sich die „übergroße Mehrheit über Unterstützung gefreut“ [FFF]; und auf den Streikversammlungen bei Opel durften alle reden, solange keine „parteipolitischen Spielchen“ betrieben wurden [Op72].

Auf Seiten der AktivistInnen war das Fazit ähnlich positiv. Die Streikunterstützung hat nicht nur Spaß gemacht und zu einer Politisierung der Streikenden beigetragen, sondern es haben „in gewisser Weise (...) die Streikenden dafür gesorgt, dass sich die Linke neu zusammengesetzt hat.“ [GG227]

Ergebnisse

So wichtig die neuen Erfahrungen aller Beteiligten für kommende Kämpfe sein können, unterm Strich endeten die Kämpfe mit Verschlechterungen für die Beschäftigten. Zwar gelang es in jedem Fall Bedingungen durchzusetzen, die von Unternehmerseite so nicht vorgesehen waren. (Wobei das nur für die offiziellen Verlautbarungen gilt, inwiefern solche „Abstriche“ nicht von vornherein einkalkuliert waren, bleibt der Spekulation überlassen.) Die Entlassenen erhielten mehr oder weniger gute Abfindungen, werden sich aber zum Großteil wohl im Heer der Langzeitarbeitslosen wiederfinden. Letztlich arbeiten die, die in den Betrieben verblieben sind, heute zu schlechteren Bedingungen als vor dem Streik.

Entsprechend gemischt waren auch die Resümees der Streikenden. „Kein Sieg, aber auch keine Niederlage“ [GG88], war der allgemeine Tenor der Streikenden – nicht nur bei Gate Gourmet. Zwar wurden durch den Streik „sogar negative Entwicklungen beschleunigt, die sonst nicht in diesem Tempo möglich gewesen wären“, jedoch habe „allein schon die Wirkung auf das kollektive Selbstwertgefühl, einem unmenschlichen Arbeitssystem wenigstens für einige Monate die Stirn bieten zu können, immensen Wert“. [GG90]

Die Gewerkschaften sahen die Streikabschlüsse natürlich viel optimistischer, man habe in jedem Falle das Beste herausgeholt, hieß es in ihren Statements unisono. Beim BSH wurde der Abschluss sogar als „großer Erfolg“ gefeiert: „Hier in Spandau konnte erstmals in Deutsch¬land mit dem Streik für einen Sozial¬tarifvertrag eine geplante Schließung verhindert werden“, hieß es in der IGM-Erklärung [BSH-Streikzeitung Nr.16] – eine Einschätzung, die bis in Kreise der Gewerkschaftslinken geteilt wurde.

Kämpfe

Für diejenigen, die an der Entstehung einer neuen antikapitalistischen sozialen Bewegung interessiert sind, ist eine Analyse der realen Bewegungen von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Zunächst kann man feststellen, dass die jüngsten Streiks einerseits wohl die „letzten Zuckungen“ (Robert Kurz) der alten, von zentralistischen Gewerkschaften dominierten Arbeiterbewegung darstellen, auf der anderen Seite durchaus aber Aspekte von ArbeiterInnen-Selbstorganisation enthalten. Letztlich sind „richtige“ ArbeiterInnenkämpfe – jenseits der in den letzten beiden Jahrzehnten dominierenden Rituale – für die Masse der heutigen Belegschaften Neuland. Daher sind praktische Erfahrungen mit ArbeiterInnenkämpfen in unseren Kreisen recht selten gemacht wurden. (Gleiches gilt im Übrigen auch für die Unternehmerseite, und für „die Gewerkschaften“, die angesichts der unnachgiebigen Haltung der „Sozialpartner“ teilweise völlig hilflos agieren.)

Zunächst einmal ist die grundsätzliche Bedeutung von Streiks und anderen ArbeiterInnenkämpfen hervorzuheben. Streikende haben – im Unterschied z.B. zu Demonstrierenden – die Macht, das Herzstück des Kapitalismus, den Verwertungsprozess von Kapital, zu unterbrechen. „Nach meiner Erfahrung steckt in jedem Streik, und wenn er noch so kurz dauert, immer das Moment, dass diese Gesellschaft anders sein kann“, brachte das ein Unterstützer bei Gate Gourmet auf den Punkt [GG236]. Ein zentraler Aspekt ist, dass die ArbeiterInnen allein im Kampf ein Gefühl für die Macht entwickeln können, die sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess haben, ebenso wie oft nur im Streik ihre Vereinzelung aufgehoben wird, der sie infolge der neuen Produktionskonzepte zunehmend unterworfen sind.

Aber dieser Aspekt steht für die meisten der Streikenden derzeit noch im Hintergrund. Für sie waren die Kämpfe „Momente der Würde in einem fortschreitenden Demütigungsprozess“ [Op149], „ein befreiender Umschlag aus zu viel Mitmachen und zu viel Wegducken.“ [GG172] Ihnen ging es, trotz aller Kritik an den herrschenden Zuständen, vor allem um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze bzw. um die Rückkehr zu vermeintlich rosigen Bedingungen der Vergangenheit mit einem „fairen Entgelt für faire Arbeit, zu menschenwürdigen Bedingungen“ [GG82]. Die ArbeiterInnen akzeptieren noch weitgehend die bestehende Ordnung, jedoch die daraus entstehenden Konsequenzen immer weniger – so drückte es Robert Schlosser in seinem Resümee über den Kampf bei Opel aus [Op219]. Oder wie es im Schlusswort der HerausgeberInnen des Gate-Gourmet-Buches heißt: „‚Nein’ zu sagen, das ist noch keine neue Welt, aber diese Selbstbehauptung und dieses Ringen um Autonomie ist die einzige Substanz, aus der sie entstehen könnte.“ [GG251].

Schlussfolgerungen

Die Frage ist nun, was unsere Rolle in diesem Prozess ist. Wie können wir dazu beitragen, dass aus dem bloßen „Nein“ zu aktuellen Missständen ein „Ja“ zu einer neuen Gesellschaft wird? Zunächst einmal, denke ich, müssen wir die Trennung zwischen „uns“ AktivistInnen und „denen“ (den sogenannten „Normalos“) überwinden. Wir sind nicht diejenigen, die die Ziele und den Weg dahin vorgeben – jegliche Avantgarde-Ambitionen führen letztlich nur dazu, dass zwar möglicherweise die Eliten ausgetauscht werden, aber sich ansonsten nichts Wesentliches ändert. Theoretisch ist das uns als AnarchosyndikalistInnen nichts Neues, praktisch verfallen auch wir immer wieder in diese Rolle, sei es weil wir uns selbst so verhalten, sei es, weil „sie“ uns dahin drängen. Wir haben zwar durchaus Vorstellungen, wie eine andere Gesellschaft und der Weg dahin aussehen könnte und sollten damit nicht hinterm Berg halten, tatsächliche Veränderungen müssen aber gemeinsam, von all denen gleichberechtigt erarbeitet und durchgesetzt werden, die an einem solchen Prozess interessiert sind. Unser Weg sollte sich daher eher am „fragenden Vorangehen“, wie es den Zapatist@as vorschwebt, orientieren. Das wird sicher nicht ohne Konflikte abgehen, auch bei den Streikenden sind z.B. die alltäglichen rassistischen Positionen verbreitet. Dennoch kann man da auch auf die Selbstheilungskräfte von Kämpfen vertrauen – so konnte immer wieder die Erfahrung gemacht werden, dass die „Nationalitätenfrage während des Streiks keine Rolle spielt“ [Wc49]. Aus sozialen Kämpfen entsteht nicht automatisch eine antikapitalistische Perspektive, aber ohne erstere ist letztere nicht zu haben.

Eine zusätzliche Chance liegt für uns auch darin, dass die Möglichkeiten, Unzufriedene durch materielle Zugeständnisse in größerem Umfang einzubinden, heute angesichts der andauernden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals hierzulande nicht mehr ohne weiteres vorhanden sind, oder wie es ein Opelaner ausdrückte: „Irgendwie ist es so eng geworden, dass sie kaum mehr Spielraum haben ihren Reformismus zu verkaufen.“ [Op108]. In diesem Sinne kann man schon davon ausgehen, dass die Zeit für uns arbeitet. Menschen, die sich gegen die Zustände in ihren Betrieben – oder auch außerhalb davon – wehren, werden früher oder später auf die Grenzen stoßen, die durch das kapitalistische System gesetzt sind.

Soweit zu den Rahmenbedingungen – was können wir aber praktisch tun? Da ist es erstmal von Bedeutung, dass wir uns mit der Situation in den Betrieben genauer auseinandersetzen. Was wird produziert, wer ist wo zu welchen Bedingungen beschäftigt, wie verlaufen die Lieferketten, wo gibt es welche Auseinandersetzungen usw. Dabei fängt man sinnvollerweise da an, wo man selbst beschäftigt ist, geht über die Situation in der Region hinaus bis hin zu internationalen Aspekten, wobei letzteres insbesondere im Falle von weltweit aufgestellten Konzernen wichtig ist. In Konfliktfällen sollten wir dann in der Lage sein, die Kontakte, über die wir ja durchaus im nationalen und internationalen Rahmen verfügen, zu nutzen, um wirkungsvolle Solidarität zu organisieren.

Ich denke, wenn wir im vorgenannten Sinne handlungsfähig sind, wird es auch nicht mehr so schwer sein, die Dominanz der DGB-Gewerkschaften zu durchbrechen. Die kochen schließlich auch nur mit Wasser – und das zumeist nicht mal sonderlich professionell. Zwar haben sie immer noch den entscheidenden Vorteil der Streikkassen. Aber auch da könn(t)en wir Alternativen anbieten. Zum einen wäre das die direkte Solidarität, die wir im Falle eines Falles mobilisieren können (zugegeben: momentan eher noch ein Tropfen auf den heißen Stein) – durch Sammlungen innerhalb der FAU und IAA, aber auch durch entsprechende Soli-Aktionen vor Ort, was auch eine Möglichkeit wäre, die „Szene“ für konkrete Klassenkämpfe zu mobilisieren. Eine weitere Alternative liegt aber in unseren Kampfformen: Kurze, wirkungsvolle direkte Aktionen – gerade die Unterbrechung von Lieferketten dürfte im Zeitalter der Just-in-time-Produktion besonders schmerzhaft sein –, aber auch Bummel- oder Überstundenstreiks, Dienst nach Vorschrift usw. können helfen, lange und – für die ArbeiterInnen – kostenintensive Streiks zu vermeiden. Zudem wäre es eine originäre Aufgabe für uns, Kontakte zu Arbeitsloseninitiativen oder Sozialforen herzustellen, um dazu beizutragen, Spaltungen innerhalb der Klasse zu überwinden und aber auch die Kämpfe von außen durch Blockaden usw. wirkungsvoll zu unterstützen – wie im Falle Gate Gourmet zumindest ansatzweise vorexerziert.

Dass in der Vergangenheit die Mitgliedschaft der Gewerkschaften nicht noch nachhaltiger weggebrochen ist, dürfte wohl in erster Linie den ständigen Bemühungen von BasisaktivistInnen zu verdanken gewesen sein, die sich zu einem nicht geringen Teil der Gewerkschaftslinken zugehörig fühlen. Jedoch mehren sich bei ihnen auch die Stimmen, die sich von der Nichtreformierbarkeit der Apparate inzwischen überzeugt haben. Die Aussagen der meisten BasisaktivistInnen bei Opel sind deutlich: „Gewerkschaften gehören für mich politisch auf den Müllhaufen der Geschichte, genauso wie die Parteien.“ [Op153] und seien „eher destruktiv für die Entwicklung des Bewusstseins der Leute“ [Op94]. Ähnlich kritisch wird die eigene Arbeit als linke Gewerkschaftsopposition als „radikalisierte Stellvertreterpolitik“ [Op158] eingeschätzt und gleiches gelte auch für die Arbeit als Betriebsrat: „Wenn du im Betriebsrat bist, bist du in erster Linie Teil dieses Stellvertreterdenkens.“ [Op76].

Auf der anderen Seite ist durch den Niedergang der Gewerkschaften auch nichts gewonnen, solange keine alternativen Organisationsformen entstehen. Die Kampferfahrungen versanden, wenn es nicht in absehbarer Zeit neue Kämpfe gibt. Hinzu kommt, dass oft die StreikaktivistInnen die Betriebe nach den Streiks verließen und so wenigstens die Aufrechterhaltung der untergründigen Basisorganisationen erschwert wird. Letztlich wird deutlich, dass eine weiterführende, überbetriebliche Organisierung auf der Tagesordnung steht. Dass dafür eine Notwendigkeit existiert, wird auch in den Interviews deutlich: „Eine kollektive Kampfperspektive über den Streik hinaus fehlte.“ [GG173] und in der Einschätzung der UnterstützerInnen bei Gate Gourmet heißt es: „Die Perspektive einer Arbeiter-Bewegung ist zum Greifen nahe, und doch blockiert“, da Zusammenfassung der Kämpfe fehlte [GG251].

In diese Lücke könnten z.B. wir als FAU stoßen. Natürlich soll das ganze nicht dazu führen, dass wir uns an die Spitze der neuen (bzw. inzwischen ja schon wieder alten?) linken Modewelle der „sozialen Frage“ setzen und den Demo- durch einen Streiktourismus ersetzen. Das ist weder sonderlich sinnvoll, noch vom Aufwand her leistbar. Ein Muss sollte es aber schon sein, dass wir die Kämpfe in unserer Stadt, unserer Region verfolgen und nach unseren Möglichkeiten unterstützen. Nur über solche praktische Solidarität wird es uns gelingen, über den Dunstkreis der „Szene“ hinaus Menschen anzusprechen und Alternativen zu den immer mehr versagenden DGB-Gewerkschaften zu schaffen. Ob die FAU dann die neue Form der Selbstorganisation ist, oder in den Kämpfen etwas Neues (die erwähnte „Neuzusammensetzung der Linken“) entsteht, ist dann letztlich nicht entscheidend.

Die Bücher

Solange keine über den jeweiligen Betrieb hinausgehenden Strukturen der Selbstorganisation der Klasse existieren, werden solche wichtigen Erfahrungen immer wieder versanden. Sicher werden Menschen, die an solchen Kämpfen beteiligt waren, auch später andernorts versuchen, ihre Erfahrungen weiterzutragen. Wichtiger ist es jedoch, dass das von einem „kollektiven Gedächtnis“ wahrgenommen wird. Solange das noch nicht so ist, sind solche Bücher (oder auch Film-Dokus) vermutlich das einzige Mittel, um zu verhindern, dass diese Kampferfahrungen nicht gleich wieder verblassen – zumal es oft die StreikaktivistInnen sind, die die Betriebe nach den Kämpfen verlassen. Deshalb kann man die Arbeit der HerausgeberInnen der beiden Bücher zu den Streiks bei Opel und Gate Gourmet gar nicht hoch genug bewerten. Beide Bücher zeichnen sich durch eine angenehme Zurückhaltung bei der Einschätzung der Meinungen der InterviewpartnerInnen aus, sind gut gegliedert und mit vielen Fotos versehen, die das Geschehen noch anschaulicher machen. Insbesondere das Buch zum Streik bei Gate Gourmet besticht durch eine gute Gestaltung mit farbiger Textgliederung (was die Unterscheidung zwischen Interview-Zitaten und Kommentaren der HerausgeberInnen einfacher macht), durchweg farbigen Fotos und auch mehreren Lageskizzen zum Ort des Geschehens. Das Kernstück des Buches bildet das Streiktagebuch eines beteiligten Kollegen sowie die Interviews der Streikenden, UnterstützerInnen und eines Gewerkschaftsfunktionärs. Dazu gibt es zudem einen Hintergrundartikel von Detlef Hartmann zum Treiben solcher Unternehmensberatungen wie McKinsey, die bei den laufenden Umstrukturierungen vielerorts zunehmend eine Schlüsselrolle spielen. Im Buch kommen letztlich alle Seiten zu Wort – mit Ausnahme der StreikbrecherInnen. (Was ja durchaus interessant gewesen wäre – allerdings dürfte deren Bereitschaft dazu eher gering sein.) Im Opel-Buch sind es vor allem die AktivistInnen der gewerkschaftsoppositionellen Gruppe „Gegenwehr ohne Grenzen“, die auch von ihren oft langjährigen Kampferfahrungen bei Opel und ihren Auseinandersetzungen mit der IGM berichten. Beide Bücher sind stellenweise spannend wie ein Krimi zu lesen – jedenfalls für diejenigen, die an der praktischen Funktionsweise von Klassenkämpfen interessiert sind.


Jochen Gester und Willi Hajek (Hg.): Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004. 226 Seiten, 10 € (ISBN 3-00-017269-6) (In Quellenverweisen im Text als [Op+Seitenzahl] abgekürzt.)

Flying Pickets (Hg.): Auf den Geschmack gekommen ... Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet. Berlin 2006 (Assoziation A), 264 Seiten, 12 € (ISBN 3-935936-54-0) [GG]

Gespräch mit einem Kollegen aus dem BSH und Nuran erzählt (Wildcat #78, S.45ff) [Wc] sowie Es muss sich in dieser Scheiß-Republik was bewegen! Interview mit einem Schicht-Arbeiter, seit rund 20 Jahren bei BSH Berlin. (flugschrift der freundinnen und freunde der klassenlosen gesellschaft • winter 2006/2007, im Web unter http://www.klassenlos.tk/) [FFF]


 

 

 

 

 

 

 

 

 


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